159 Jugendliche wurden in Rheinland-Pfalz 2021 auf eigenen Wunsch in Obhut genommen. Experten verweisen bei Konfliktlagen in der Familie auf viele Anlaufstellen. Doch sind diese hinreichend bekannt?
Von Wolfgang Jung, dpa
Der Tod der aus Pirmasens stammenden Jugendlichen sei zutiefst erschütternd, betont das Landesfamilienministerium. «Die Motive, die zu dieser erschreckenden Tat geführt haben, müssen aufgeklärt und die Tat muss entsprechend hart geahndet werden.» Grundsätzlich gelte: Wenn junge Menschen Probleme im sozialen Umfeld oder im Elternhaus hätten, seien Jugendämter als «staatliche Wächter des Kinderschutzes» die wichtigsten Anlaufstellen.
«Wenn ein junger Mensch nicht mehr in seiner Familie leben kann oder will, kann er beim Jugendamt um Hilfe bitten», erklärt ein Sprecher. Dann kann eine sogenannte Inobhutnahme mit Unterbringung in einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe oder bei einer Pflegefamilie erfolgen. 2021 seien in Rheinland-Pfalz 159 Menschen zwischen 14 und 18 Jahren auf eigenen Wunsch von Jugendämtern in Obhut genommen wurden. «Dies waren rund 16 Prozent aller 1015 in Obhut genommenen jungen Menschen im Bundesland.»
159 Jugendliche in Obhut genommen
Neben den Jugendämtern gibt es in Rheinland-Pfalz rund 60 Erziehungs- sowie Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen. Eine Besonderheit bilden Kinderschutzdienste: Rheinland-Pfalz und Thüringen sind die einzigen Bundesländer, die solch spezielle Dienste fördern. In Rheinland-Pfalz gibt es derzeit 16 Kinderschutzdienste an 18 Standorten für 26 Städte und Kreise. Sie sind Ansprechpartner etwa für Opfer von Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch.
«Erfahren wir von Situationen, welche Leib und Leben gefährden können, werden wir selbstverständlich sofort aktiv», betont auch Barbara Schleicher-Rothmund. Sie ist Bürgerbeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz und Beauftragte für die Landespolizei – Beschwerdestelle für Kinder- und Jugendhilfe. «Wir nehmen unmittelbar Kontakt mit der Polizei vor Ort oder den Jugendämtern auf, um Hilfe zu veranlassen. Gegebenenfalls versuchen wir, weiterführende Informationen oder Institutionen zu vermitteln.»
Die Ombudsstelle für Kinder und Jugendliche wurde 2017 gegründet. «Kinder, Jugendliche und Eltern sollen die Möglichkeit erhalten, sich niedrigschwellig an eine unabhängige Institution zu wenden, die einen Klärungs- und Vermittlungsprozess gestaltet», schildert Schleicher-Rothmund. Angebunden ist diese Aufgabe der Ombudschaft bei der Bürgerbeauftragten des Landes.
«Zentral ist die Frage: Was muss sich ändern?»
Die Beschwerdestelle sei eine Art «Lotse», meint die Bürgerbeauftragte. Die Macht zwischen jungen Menschen einerseits und Institutionen wie dem Jugendamt andererseits sei unausgeglichen verteilt. «Ombudschaftliches Engagement und professionelles Handeln sollen diese Asymmetrie ausgleichen.» Weitere Ombudsstellen gibt es in Trägerschaft des Vereins Ombudsstelle Kinder- und Jugendhilfe RLP für den Raum Trier/Trier Saarburg sowie für den Raum Ludwigshafen.
Die Jugendämter seien verpflichtet, allen Hinweisen auf mögliche Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen nachzugehen, unterstreicht eine Sprecherin des Landesamts für Soziales, Jugend und Versorgung. Im Kontakt mit der Familie gelte es, gemeinsam eine Lösung zu finden und die Gefahr abzuwenden. «Zentral ist stets die Frage: Was muss sich ändern, damit das Wohl des Kindes oder Jugendlichen wieder geschützt ist?» Kinder und Jugendliche in Not könnten sich auch ohne Wissen der Eltern an das örtliche Jugendamt wenden und um Unterstützung oder Inobhutnahme bitten.
Im Wormser Fall stammt die Familie aus Afghanistan. Ob zusätzlich Traditionen oder Ähnliches hier eine Rolle spielen, dazu liegen dem Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung keine Erkenntnisse vor.
Für die Psychologin Christiane Ludwig-Körner können Kinder und Jugendliche etwa aus Afghanistan in ein «großes Spannungsfeld» geraten. «Sie gewöhnen sich viel schneller als ihre Eltern an die für sie neuen, freizügigeren westlichen Umgangsformen – nicht nur in der Identifizierung mit westlichen Jugendlichen, sondern auch infolge pubertärer Neugierde.» Es sei leicht vorstellbar, dass sich eine 15-Jährige gegen Verbote auflehne – und zwar von Eltern, denen ein Festhalten an verinnerlichten Normen «lebensrettend» scheinen könnte.
Sind Jugendliche ausreichend informiert?
«Im Gegensatz zu den 60er und 70er Jahren werden Migrantinnen und Migranten deutlicher wahrgenommen, und es gibt mehr Anlaufstellen», sagt Ludwig-Körner, «wenngleich diese wohl noch nicht genügend bei Kindern und Jugendlichen bekannt sind.» Die Telefonnummern der Krisen-Notrufe sollten in allen Schulen aushängen, meint sie. Zudem wären mehr Migrantinnen und Migranten als Beratende bei der Telefonseelsorge gut.
«Aber auch Frauenhäuser, wohin sich minderjährige Mädchen retten können, sind eine wichtige Adresse», sagt die Psychologin. Alle Stellen im Gesundheitsbereich und bei Jugendämtern kämen hier in Frage. «Das Problem ist, dass Kinder und Jugendliche immer noch zu wenig über Anlaufstellen informiert sind.» (dpa/lrs)