Von Astrid Möslinger, dpa
Mannheim. Durch die wabenförmigen blauen und roten Fenster der Trauerhalle auf dem Mannheimer Hauptfriedhof dringt gedämpftes Licht. Es fällt auf eine graue Urne, die von Kerzen umrahmt in diesem modernen Betonbau aufgebahrt ist. In den Sitzreihen dahinter haben vereinzelt Besucherinnen und Besucher Platz genommen: drei Männer, ein Paar und eine Frau mit ihrem Enkel im Kinderwagen. Heute werden die evangelische Pfarrerin Anne Ressel und die katholische Gemeindereferentin Gundula Müller eine Zeremonie abhalten, die so würdevoll ist wie jede andere Trauerfeier. Nur gedenken sie Menschen, die nicht von ihren Familien auf ihrem letzten Weg begleitet werden. Ein Großteil von ihnen hat die Welt einsam verlassen.
Wenn keine Angehörigen auffindbar sind, ordnen Städte und Kommunen die Trauerfeiern behördlich an, sagt Frank Roser von der Landesinnung des Bestatterhandwerks Baden-Württemberg. Häufig werden die Toten dann ohne ein Wort des Abschieds unter die Erde gebracht. Auch Pfarrerin Ressel kennt diese Praxis. «Ich habe mitbekommen, wie auf dem Friedhof Urnen standen und von Friedhofsmitarbeitenden einfach beigesetzt wurden. Da habe ich gedacht, das kann doch nicht wahr sein», erinnert sie sich. Sie suchte den Kontakt zu Kollegen aus der katholischen Kirche und den Verantwortlichen bei der Stadt, um etwas daran zu ändern. Heute, so Ressel, segneten in Mannheim Geistliche die Urnen aller katholischen und evangelischen unbedacht Verstorbenen. Außerdem würden sie seit zehn Jahren in ökumenischen Quartalstrauerfeiern noch einmal gewürdigt. Die meisten Bestattungen hätten zu diesem Zeitpunkt schon stattgefunden.
An diesem Freitagmittag ist die Urne von Marliese aufgebahrt, stellvertretend für alle, die im vergangenen Quartal ohne Angehörige gestorben sind. Ressel und Müller verlesen ihre Namen, 29 sind es. Die älteste wurde 96 Jahre alt, der jüngste hat nicht einmal das 60. Lebensjahr erreicht. Um etwas über diese Menschen zu erfahren, sucht Ressel in den Gemeinden nach Hinweisen, blättert durch das Telefonbuch und recherchiert bei Google und Facebook. Dieses Mal hat die Pfarrerin nur winzige Bruchstücke gefunden. Anton zum Beispiel liebte den Rhein und Alexander war die «große Seele» eines Mannheimer Lokals. Von Marliese weiß sie nicht mehr als das Geburts- und das Sterbedatum.
Die Gründe dafür, dass ein Leben in der Anonymität endet, sind vielfältig. «Ein erheblicher Teil dürfte nicht nur einsam, sondern auch in Armut gelebt haben», ist Ressel überzeugt. Obdachlose, Drogen- und Suchtkranke sind darunter, aber auch Hochbetagte, die ihre Kinder überlebt haben. Und manchmal fehlen den Angehörigen einfach die finanziellen Mittel. «Ich hatte schon Familien, die ihre Toten ordnungsbehördlich bestatten ließen, weil überhaupt kein Geld da war», sagt die evangelische Gemeindepfarrerin – obwohl die Möglichkeit besteht, Hilfe beim örtlichen Sozialamt zu beantragen.
Kevin Ittemann, Sprecher des in Mannheim zuständigen Dezernats V, erläutert: «Einige Menschen möchten sich eigentlich um die Beerdigung kümmern, finden aber keinen Bestatter, der bereit ist, angesichts der finanziellen Situation das Risiko des Auftrags zu übernehmen.» Und ein Vertrag mit einem Bestattungsunternehmen ist laut Merkblatt der Stadt Mannheim wiederum eine von mehreren Voraussetzungen, damit die Kosten erstattet werden.
Wenn keine religiösen oder persönlichen Gründe dagegen sprächen, sei bei Amtsbeisetzungen die finanziell günstigere Feuerbestattung vorgesehen, sagt Ittemann. Die Kosten dafür lägen in Mannheim zwischen 2500 und 2800 Euro.
Die Zahl der unbedacht Verstorbenen steigt langfristig, wie unter anderem Roser sagt. «Die Vereinsamung nimmt zu, und die Singles kommen ins Sterbealter», erklärt der Bestatter aus Lörrach den allmählichen Anstieg. Im vergangenen Jahr gab es etwa in Mannheim 279 Amtsbeisetzungen, 2018 waren es 263.
Landesweite Erhebungen existieren dem Statistischen Landesamt Baden-Württemberg zufolge nicht, die Fälle werden nur in den Rathäusern registriert: In Stuttgart kam es im Jahr 2023 zu 436 behördlich angeordneten Bestattungen, in Freiburg zu 134. Ihr Anteil an den Sterbefällen variiert von Stadt zu Stadt. Während in Freiburg mit seiner relativ geringen Armutsquote nur etwa vier Prozent der Verstorbenen so beerdigt werden, beträgt die Rate in der Arbeiterstadt Mannheim über acht Prozent.
Auch andere Kirchengemeinden sorgen in solchen Fällen für einen würdevollen Rahmen, wie Stefan Herholz, der Sprecher der Evangelischen Landeskirche in Baden, bestätigt. Beispielsweise finden in Karlsruhe anonyme Sammelurnentrauerfeiern statt. Die Evangelische Gesellschaft Stuttgart hat einen anderen Weg gewählt: Sie berät Menschen ohne Angehörige, die vor ihrem Tod die Art und Weise ihrer Bestattung festlegen wollen.
Die Teilnehmer in Mannheim begeben sich nach der Totenmesse mit den beiden Geistlichen zur Gedenkstelle für alle, die hier anonym beigesetzt wurden – ein Platz voller Blumen, Grablichter und Engel. Für Ressel und Müller beginnt nun die seelsorgerische Arbeit. Auch heute kommt man schnell ins Gespräch miteinander. Das ältere Ehepaar gedenkt seines Nachbarn Lothar, den Ressel während des Gottesdienstes erwähnt hat. Zwei Männer kannten keinen der Verstorbenen, an die heute erinnert wird, sind aber seit Kurzem Witwer. Die Frau mit dem Kinderwagen hat im Radio von der Trauerfeier gehört und sich spontan entschlossen vorbeizuschauen.