Am Ende fehlte Generalvikar Andreas Sturm schlicht die Hoffnung. Er habe keine Zuversicht mehr in die Reformfähigkeit der römisch-katholischen Kirche, sagte der ranghohe Geistliche in Speyer – und trat in einem drastischen Schritt aus der Kirche aus.
Sturms Entscheidung erschütterte vor wenigen Wochen das Bistum in der pfälzischen Domstadt. Von einem «gewaltigen Schock» spricht Bischof Karl-Heinz Wiesemann. Ob die schleppende Aufarbeitung des Missbrauchsskandals, das lähmende Innenleben der Institution Kirche – oder die Sehnsucht nach einer Familie: Nur Sturm weiß, was ihn am Ende getrieben hat. Über seine Motive gibt ein Buch nun Auskunft.
«Ich muss raus aus dieser Kirche», heißt das Werk, das in diesen Tagen im Verlag Herder erscheint (ISBN: 978-3-451-03398-8). Darin beschreibt der 47-Jährige seinen Werdegang vom überzeugten Geistlichen zum Zweifler. «Eigentlich ist es mir erst heute im Rückblick klar, dass es ein langer Weg der Entfremdung war», meint Sturm unter anderem. Das Buch solle auch zeigen, wie sehr er noch an der Kirche hänge und dass er ihr alles Gute wünsche. «Nur ohne mich.»
Der Schritt verdeutlicht die Krise der Kirche. Ein Beispiel: Während beim Katholikentag in Münster 2018 noch 50 000 Dauerteilnehmer dabei waren, waren es jüngst in Stuttgart 19 000. Die Missbrauchsskandale erschüttern die Kirche immer noch in ihren Grundfesten, ebenso wie der Reformstau, die massenhafte Abkehr und der Bedeutungsverlust der Institution. Heute gehört nur noch eine Minderheit – weniger als die Hälfte der Bevölkerung – einer der beiden Großkirchen an.
Sturm galt im Bistum als Reformer. Als der Vatikan sich gegen die Segnung homosexueller Partnerschaften aussprach, stellte sich der damalige Generalvikar öffentlich dagegen: «Ich habe Wohnungen, Autos, Fahrstühle, unzählige Rosenkränze und so weiter gesegnet und soll zwei Menschen nicht segnen können, die sich lieben? Das kann nicht Gottes Wille sein.» Er beklagte auch die Diskriminierung von Frauen.
Doch ob das Verhältnis zu Frauen oder zu Homosexuellen: «Das sind weltkirchlich noch immer keine Themen», kritisiert Sturm in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Er habe nicht den Eindruck, dass der Vatikan wirklich Verständnis habe für die aktuelle Situation. «Solange Rom glaubt, es müsse alles überall wie eine Art Konzernzentrale steuern, denke ich nicht, dass sich etwas ändert.»
Sturm ist ausgetreten – und gleichzeitig der Altkatholischen Kirche beigetreten, für die er künftig als Priester am Bodensee arbeitet. Die Altkatholische Kirche entstand nach den Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870, wonach der Papst die oberste rechtliche Gewalt in der katholischen Kirche ausübt und in Fragen des Glaubens unfehlbar ist. Das Bistum der Altkatholiken in Deutschland umfasst rund 60 Gemeinden in nahezu allen Bundesländern.
Der Kirchenexperte und Buchautor Andreas Püttmann («Wie katholisch ist Deutschland… und was hat es davon?») nennt es einen «Paukenschlag», dass ein ranghoher Geistlicher nicht nur sein Amt aufgibt, sondern auch in eine andere Kirche eintritt und zur Begründung ein Buch schreibt. «Dieser beispiellose Vorgang zeigt, was die Stunde geschlagen hat für die katholische Kirche in der modernen, liberalen Gesellschaft.» Für die Altkatholische Kirche sei der prominente Übertritt «ein Coup», meint er. «Viele frustrierte Katholiken haben sie als Alternative gar nicht auf dem Schirm.»
Aus Sturms Worten sei erkennbar, dass es sich um einen lange gereiften Entschluss handele, sagt Püttmann. «Er bleibt differenziert und drückt auch Dankbarkeit, ja sogar Liebe zu seiner bisherigen Berufung aus. Man müsste schon ein Herz aus Stein haben, um da einfach die Nase über einen sogenannten Abtrünnigen zu rümpfen.»
«Ich muss raus aus dieser Kirche, in der Missbrauchstäter viel zu lange ihre Verbrechen durchführen konnten und gedeckt wurden», schreibt Sturm im Buch. «Ich muss raus aus dieser Kirche, in der Frauen nicht geweiht werden, weil wir ihre Berufung schlicht negieren und eine Weihe als unmöglich ablehnen.» Raus aus einer Kirche, in der Priester nicht heiraten dürften. Sturm räumt einen Bruch des Zölibats ein. «Es gab in meinem Leben Beziehungen, und ich weiß leider nur zu gut, wie sehr ich durch Heimlichtuerei Menschen verletzt habe.»
Als Priester komme man oft mit vielen Eindrücken nach Hause, und da sei dann niemand, sagt Sturm. «Da ist viel Einsamkeit. Mir ist es nicht gelungen, das immer allein im Gebet aufzufangen.» Für die Zukunft wolle er in Richtung Familie nichts ausschließen. «Ich gehe derzeit nicht in die aktive Planung. Aber ich glaube, ich könnte glücklicher werden mit einer Partnerin an meiner Seite.»
Der in Frankenthal (Pfalz) geborene Sturm war mehr als vier Jahre lang Generalvikar. Immer wieder sei er bei Reformbemühungen «mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen», erzählt er. «Irgendwann ist Ihnen ihr Kopf zu schade.» Sein Buch sei keine Abrechnung mit der katholischen Kirche. «Ich verdanke ihr viel. Was ich will: den riesigen Reformstau aufzeigen.» Er bereue den Schritt nicht, betone aber auch: «Ich bitte alle um Verzeihung, die ich durch diesen Schritt enttäusche, verletze und verärgere – ich hatte einfach keine Kraft mehr.»
Überflüssig sei Kirche nicht, meint Sturm. «Wir haben der Welt viel zu sagen. Die Botschaft ist toll und immer noch notwendig.» Die römisch-katholische Kirche müsse sich aber dringend um jene Themen kümmern, «die man eigentlich sehr schnell klären» müsste. «Dann können Kirchen wieder Strahlkraft entwickeln.» Das sei ihm am Ende in Speyer nicht mehr möglich gewesen. «Ich dachte, ich spiele eine Schallplatte ab. Aber wenn ich beim Predigen eher eine Rolle spiele, muss ich gehen. Ich will das mit heißem Herzen tun – und keine Show.»