Fr, 12.01.2024 , 08:41 Uhr

Mannheim: Notfall oder Polizeigewalt? - Zwei Polizisten nach tödlicher Kontrolle am Marktplatz vor Gericht

Ein Mann stirbt nach einem Polizeieinsatz in Mannheim. Mit den Hinterbliebenen protestieren viele Menschen gegen Polizeigewalt auf der Straße. Nun müssen sich zwei Beamte vor Gericht verantworten.

Mannheim. Mehr als eineinhalb Jahre nach einem gewaltsamen, tödlichen Polizeieinsatz am Marktplatz in der Mannheimer Innenstadt wird die folgenschwere Kontrolle nun auch vor Gericht aufgearbeitet. Zwei Polizisten müssen sich von Freitag (09.00 Uhr) an vor dem Landgericht der Quadratestadt verantworten, weil sie Anfang Mai 2022 den Tod eines psychisch kranken Mannes verschuldet haben sollen. Der 47-Jährige war bei dem Polizeieinsatz am Marktplatz zusammengebrochen und im Krankenhaus gestorben. Der Mann mit kroatischen Wurzeln litt an einer paranoiden Schizophrenie und war Patient im Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Einer der beiden Polizeibeamten ist wegen Körperverletzung im Amt mit Todesfolge angeklagt, der andere wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Insgesamt acht Verhandlungstage sind für den Prozess angesetzt, der bis März 2024 laufen soll.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft mahnte vor dem Auftakt, Beamte hätten zunehmend erhebliche Probleme im Umgang mit psychisch kranken Menschen. «Immer häufiger muss die Polizei Zwangsmittel einsetzen, auch zum Schutz der Polizei selbst», sagte der baden-württembergische Gewerkschaftsvorsitzende Ralf Kusterer der dpa.

Polizeieinsatz fast lückenlos auf Video

Die entscheidende Auseinandersetzung der Mannheimer Polizei mit dem 47-Jährigen und seine letzten Momente bei Bewusstsein sind nahezu lückenlos über Videoaufnahmen dokumentiert. Passanten haben Clips aufgenommen und in den sozialen Medien geteilt, Überwachungskameras zeichneten die Szene damals auf. Zu sehen ist, wie das spätere Opfer die Straße überquert, wie einer der Polizisten ihn ergreift und wie sich der Mann losreißt, bevor er überwältigt wird.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatte der Mann zuvor das Institut aufgesucht, weil er seit Jahren an einer paranoiden Schizophrenie litt und sich sein Zustand verschlechtert hatte. Er verließ es allerdings wieder und konnte auch von seinem Arzt nicht zur Rückkehr bewegt werden. Der besorgte Mediziner bat schließlich die beiden Polizisten um Hilfe.

Hier setzen die Videos ein: Weil sich der Mann nicht zur Rückkehr in das Institut bewegen lässt und wehrt, sprüht ihm der Polizeioberkommissar nach Angaben der Staatsanwaltschaft Pfefferspray ins Gesicht. Der Patient wehrt sich mit Faustschlägen, bis ihn beide Beamten zu Boden bringen, wie es auch in einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft weiter heißt. Als der Kommissar Handschellen anlegen will, bäumt sich der Mann auf, der Beamte schlägt ihm viermal mit der Faust gegen den Kopf, der Patient blutet aus der Nase und bleibt einige Minuten auf dem Bauch liegen. Eine letzte Bewegung noch, dann regt er sich nicht mehr.

Notfall oder Polizeigewalt?

Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt: «Insbesondere durch die lange und ungünstige Fixierung auf dem Bauch und eine Blockierung der oberen Atemwege durch eingeatmetes Blut litt der 47-Jährige unter Sauerstoffmangel». Heißt: Der 137 Kilo schwere Mann starb, weil er auf dem Boden liegend wegen des Drucks auf den Oberkörper nicht mehr richtig atmen konnte und weil er Nasenbluten hatte. Den Ermittlungen zufolge waren weder das Pfefferspray noch die vier Schläge nach polizeirechtlichen oder sonstigen Vorschriften gerechtfertigt. Mehr noch: Sie seien mitursächlich für den Tod gewesen, erklärte die Staatsanwaltschaft.

Aus ihrer Sicht hat der ebenfalls angeklagte Polizeihauptmeister nicht selbst ungerechtfertigte Gewalt angewandt, er brachte den Mann aber auch nicht in eine Seitenlage. Damit hätte der Tod nach vorläufiger Einschätzung der Rechtsmedizin «mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» vermieden werden können, hieß es. «Der 47-Jährige hätte dann freier atmen können.»

Debatte über Polizeigewalt

Der Fall hatte eine Debatte darüber angefacht, ob Mannheimer Polizisten und Polizistinnen generell gut genug auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen vorbereitet sind. In der Stadt bildete sich nach dem Tod des 47-Jährigen die Initiative «2. Mai Mannheim», die sich mit den Hinterbliebenen solidarisiert, es wurde auch ein Gedenkzug organisiert. Über ein Hinweisportal des Landeskriminalamts Baden-Württemberg kamen 120 Videosequenzen zusammen, aus denen ein einstündiger, chronologischer Zusammenschnitt erstellt wurde. Mehr als 90 Menschen wurden als Augenzeugen ermittelt.

Mehr zum Thema ab 18 Uhr in RNF life.

Video: Der fatale Polizeieinsatz am Marktplatz Mannheim: Die politische Diskussion hat begonnen (22.9.2022)

(dpa/dls)

Mannheim polizei prozess

Das könnte Dich auch interessieren

03.09.2024 Hockenheim/Bad Schönborn: Staatsanwalt erhebt nach Tod von zwei Ukrainerinnen Mord-Anklage gegen Ehepaar Die mutmaßlichen Täter werden verdächtigt, die 27-Jährige und ihre Mutter getötet zu haben, um das Baby der Jüngeren als ihres auszugeben. Das Verbrechen sorgte bundesweit für Entsetzen. Hockenheim/Bad Schönborn. Im Fall zweier getöteter Ukrainerinnen in Nordbaden hat die Staatsanwaltschaft Mannheim Anklage gegen ein Ehepaar wegen Mordes erhoben. Die 44-jährige Frau und ihr 43-jähriger Mann sollen 27.08.2024 Mannheim: Anzeigen gegen Polizisten nach Messerattacke auf Marktplatz ohne Folgen Ende Mai erstach ein Afghane in Mannheim den Polizisten Rouven Laur und verletzte fünf Männer. Videos der Tat im Netz lösten Kritik am Verhalten der Polizei aus – mehrere Anzeigen wurden gestellt. Mannheim. Knapp drei Monate nach dem tödlichen Messerangriff auf dem Mannheimer Marktplatz verfolgt die Staatsanwaltschaft mehrere Anzeigen gegen am Einsatz beteiligte Polizisten nicht 16.07.2024 Mannheim: Von Gerüst gesprungen und tödlich verletzt - Staatsanwalt sieht Polizei schuldlos bei Tod von Einbrecher im April Er soll in Mannheim von einem etwa zwölf Meter hohen Gerüst in die Tiefe gesprungen sein. Die Beamten hatten laut Behörden noch versucht, den Mann ins Haus zu ziehen. Mannheim. Nach dem Tod eines mutmaßlichen Einbrechers bei einem Polizeieinsatz Ende April sieht die Staatsanwaltschaft Mannheim keine Schuld bei den am Einsatz beteiligten Beamten. Die Ermittlungen 01.07.2024 Mannheim: Messerangreifer vom Marktplatz nun im Gefängnis Der 25-jährige Afghane, der in Mannheim einen Polizisten mit einem Messer tödlich verletzt hat, ist vom Krankenhaus ins Gefängnis verlegt worden. Wo genau er einsitzt, ist nicht bekannt. Mannheim/Karlsruhe. Rund einen Monat nach dem tödlichen Messerangriff auf dem Mannheimer Marktplatz ist der Tatverdächtige jetzt in eine Justizvollzugsanstalt verlegt worden. Zuvor war er im Mannheimer Theresienkrankenhaus