Ludwigshafen. Gefühle können im Internet ein tödlicher Köder sein. Das muss Deutschlands dienstälteste «Tatort»-Kommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) im neuen Ludwigshafen-Krimi erkennen. Wo liegen die Grenzen virtueller Realität? Diese Frage ist in einer digitaler werdenden Gesellschaft hochaktuell. «Avatar» heißt der «Tatort», den das Erste am Sonntag um 20.15 Uhr ausstrahlt. Darin gerät Odenthal in eine unschöne neue Welt – es geht auch um den Umgang mit sozialen Medien, der Erwachsene und Jugendliche entzweit.
Der TV-Dauerbrenner beginnt mit einer tanzenden Frau mit Sektkelch, die sich selbst filmt. Eine Influencerin? Das Glas kippt, das Bild kippt, die ersten Filmsekunden setzen den Ton. Es ist der Auftakt zu einem anspruchsvollen Handlungs-Irrgarten (Buch: Harald Göckeritz). Dieser 79. Odenthal-«Tatort» entrollt viele Erzählstränge und lotet seine Themen mit starken Bildern (Kamera: Conny Janssen) und treibender Musik (Dominic Roth) aus. Es lohnt, dranzubleiben.
Ein Unbekannter wird tot am Rhein gefunden, er starb an einem Herzinfarkt. Zum Zeitpunkt seines Todes war er nicht allein, jemand hat ihm Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Die Ermittlerinnen Odenthal und Johanna Stern (Lisa Bitter) stoßen auf eine mysteriöse Zeugin: Julia da Borg (Bernadette Heerwagen). Alles deutet darauf hin, dass sie den Mann gesehen hat. Doch – Beweise gibt es nicht, und die Frau leugnet. Kurz darauf liegt ein weiterer Toter am Rhein.
Ein Avatar ist ein künstliches Abbild eines echten Menschen. Was tun, wenn die Taten in der wirklichen Welt spielen – aber die Spuren tief im Internet liegen? Regisseur Miguel Alexandre leuchtet das Thema digitale Manipulation in vielen Facetten aus. Jugendliche geben sich stark und sind doch zerbrechlich. Erwachsene bleiben überfordert zurück. Stabile Verhältnisse sind in «Avatar» eine Illusion.
Schritt für Schritt kommen die Kommissarinnen dem schmutzigen Grund für Rache und Gewalt näher. Immer deutlicher wird der Abgrund hinter dem Tod von Julias Ziehtochter Sina (Ziva Marie Faske). Das Internet kann gnadenlos sein, wenn Menschen ihm zuviel anvertrauen.
Längst sei die «Chat-Welt» ein integraler Bestandteil unserer Lebenswirklichkeit geworden, sagt Autor Göckeritz. «Stimmen können so manipuliert werden, dass sie auf eine andere Person zutreffen, eine Künstliche Intelligenz kann in Sekunden Antworten generieren, so dass es wirkt, als habe der Gefragte spontan und direkt reagiert, als sei er ein wirklicher Mensch. Mit all dem kann man in Krimis spielen, all das schafft neue, erzählerische Möglichkeiten.»
Warum eine Frau Löcher in einen Laptop bohrt und ihn schließlich in den Rhein wirft, und warum ein hoher Bankangestellter in einem Billighotel wohnt, bleibt spannend bis zum Schluss. Der stilsicher erzählte Film hält die Neugier über weite Strecken aufrecht.
Ganz nebenbei ist «Avatar» auch das Ende von zwei langjährigen Helfern: Das Ludwigshafen-Team arbeitet künftig ohne Schauspielerin Annalena Schmidt und Schauspieler Peter Espeloer weiter. Weitgehend unpathetisch nehmen die Filmfiguren Edith Keller und Peter Becker, die seit 1998 dabei waren, Abschied vom Sonntagskrimi. «Jetzt gehts aufs Abstellgleis», sagt Espeloer im Film und beißt in ein Brötchen. «Aber wir könnten als Avatare wieder auftauchen.» (dpa)