Von Wolfgang Jung (Text), dpa
Es ist wie ein literarischer Staffellauf. Nach dem Start durch Julia liest Christine den nächsten Abschnitt, dann schließt sich Manfred mit einem Kapitel an, es folgt Annette – und so weiter. Wie auf einem Karussell macht die Geschichte «Der Ausweg» an diesem Sommertag in Ludwigshafen die Runde. «Shared Reading» – etwa: gemeinsam lesen – heißt das Konzept, das aus Großbritannien kommt und sich auch in Rheinland-Pfalz etabliert.
In der zweitgrößten Stadt im Bundesland verteilt Julia Szostek in einem Nebenraum der Stadtbibliothek mehrere Blätter mit kopierten Texten. Um die Seiten bequem umblättern zu können, sind sie an einer Ecke zusammengeheftet. Die Teilnehmenden sitzen um einen Tisch mit Plätzchen und Tee. Durch die angelehnte Tür dringen gedämpft Geräusche, in der Ecke steht eine Topfpflanze, die Vorhänge sind geschlossen. Es ist eine gelöste und doch konzentrierte Stimmung.
Szostek hat ihre Fortbildung zur Leseleiterin beim Heidelberger Kulturzentrum Karlstorbahnhof gemacht. Zu den allmonatlichen Treffen in Ludwigshafen bringt die 62-Jährige stets zwei Stücke mit – einmal Prosa, einmal Poesie. Akzentuiert liest sie diesmal den Anfang eines Textes von Schriftsteller Daniel Kehlmann vor: «Im Frühsommer seines 39. Jahres wurde der Schauspieler Ralf Tanner sich selbst unwirklich.» Alle lesen andächtig auf den Kopien mit. Nach einem ersten Abschnitt beginnt die Gruppe mit der Diskussion.
«Dass Kehlmann schreibt, Fotografieren nutze das Gesicht ab – das ist schon ein kurioser Gedanke, aber toll», sagt Christine. «Es stimmt schon – wenn Prominente nicht geschminkt sind, sehen sie ganz anders aus», sagt Manfred über eine gelesene Passage. Niemand in der Runde versucht, den anderen mit Argumenten zu übertrumpfen – es wirkt eher wie eine Art Reisegruppe auf dem Weg zum Kern der Geschichte.
Szostek lässt die Diskussion laufen und muss die Gespräche nur selten anstoßen. Aus der Unterhaltung ist große Leseerfahrung herauszuhören. «Das hast du wieder gut rausgesucht», lobt Annette die Prosa.
Dann greift die Gruppe zur Poesie – diesmal «Dass ich fassungslos bleibe» von Karl Krolow. «Lyrik kann man nicht mathematisch klären», meint Annette, «wir versuchen das aber immer wieder.»
In Großbritannien gibt es «Shared Reading» schon seit 20 Jahren. Entstanden ist die Idee in Liverpool. Eine der Initiatorinnen, Jane Davis, erklärte einmal ihre Beweggründe. «Zusammen lesen ist ein wundervoller Weg, verbunden zu sein mit anderen Menschen.»
Den mittlerweile internationalen Lesekreis gibt es etwa auch in Mainz. «Wir sind im Mai 2022 gestartet», erzählt Organisatorin Ines Linden-Kamuf. Die Altmünsterkirche stellt die Räume zur Verfügung. «Wir bieten Shared Reading am 1. und 3. Dienstag im Monat von 19.30 Uhr bis 21.00 Uhr im Großen Gemeindesaal an. Es soll eine Möglichkeit sein, sich selbst und anderen in der Literatur zu begegnen.»
Bisher sei man eine kleine Gruppe. «Ganz unterschiedliche Menschen, die sich austauschen oder auch nur einander zuhören», schildert Linden-Kamuf. «Es besuchen uns deutlich mehr Frauen als Männer. Die Altersspanne ist groß.» Wie in Ludwigshafen, besteht die Session in der Landeshauptstadt aus Prosatext und Lyrik. «Die Texte müssen uns anspringen und uns etwas sagen. Besonders gut funktionieren Geschichten, die viel Raum zur Interpretation lassen – und die mehr Fragen stellen als Antworten geben.»
Es geht um Bücher: Wie geht es der Branche? Herausforderungen seien etwa ein anhaltender Kostendruck, und auch das Konsumklima habe sich nach der Pandemie noch nicht erholt, teilte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels unlängst mit. Eine Chance sei aber, mit Büchern eine Brücke zu bauen – von digitalen Trends zum stationären Handel.
In Zeiten von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz kann «Shared Reading» eine kreative Insel sein. «Wir begegnen uns als Menschen – ganz persönlich», sagt Linden-Kamuf. Das gemeinsame Lesen, Diskutieren und Zuhören biete Raum für Authentizität. «Wir bringen zu dem Abend nichts mit als uns selbst – mehr brauchen wir nicht.»
Experten verweisen darauf, dass «Shared Reading» mehr sei als das bloße Durcharbeiten von Texten: Das gemeinsame Lesen steigere das Wohlbefinden und die Kommunikationsfähigkeit. (dpa/lrs)