Die fröhlichen Farben auf dem Hof der Gräfenauschule passen nicht zum traurigen Geschehen hinter den Mauern der Lehranstalt in Ludwigshafen. Wohl gleich 40 Erstklässler müssen das Schuljahr wiederholen – ein Schock für Rektorin Barbara Mächtle. «Die extrem hohe Zahl ist erschreckend. Im vergangenen Jahr waren es 23 oder 24», sagt Mächtle. «Auch in anderen Klassenstufen gibt es Wiederholer – aber bei weitem nicht so viele.» Die Gründe in der zweitgrößten Stadt in Rheinland-Pfalz sind vielfältig. Oft sprechen die Kinder schlecht Deutsch oder kommen aus bildungsfernen Familien.
Und meist waren die Kinder nur kurz oder gar nicht in einem deutschen Kindergarten. «Viele sagen, die Eltern sollen mal machen, aber die geben meist ihr Bestes. Ich habe Kinder, die waren zwei Jahre auf der Flucht. Da war nicht viel mit Schule», sagt Mächtle. «Es fehlen die Vorläuferfähigkeiten. Es geht nicht nur darum, eine Schere richtig zu halten, sondern auch darum, sich in der Gruppe richtig zu verhalten.»
Mächtle ist seit 2004 an der Gräfenauschule. «Hier hatten schon immer etwa 98 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund», sagt die 47-Jährige. «Aber die Zusammensetzung der Bevölkerung im Stadtteil Hemshof hat sich in den vergangenen 20 Jahren stark verändert.»
Der Schulstandort Hemshof, wo viele Migrantinnen und Migranten leben, wird von vielen als Brennpunkt oder Problemviertel bezeichnet. «Ganz sicher spielt der Hemshof bei den Leistungen in der Schule eine Rolle», sagt Mächtle. «Wer hier aufwächst, braucht nicht zwingend Deutsch zu lernen, aber in der Schule brauchen die Kinder es.»
Die Gräfenauschule sei kein Einzelfall, sagt Lars Lamowski. «In Ludwigshafen werden die Missstände im Schulsystem wie unter dem Brennglas sichtbar», meint der Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Von der «Spitze des Eisbergs» spricht der Grundschulleiter. «Unter der Decke schlummern viele Ludwigshafens.»
Die Aufgabenfülle der Schule habe in den vergangenen Jahren enorm zugenommen – etwa Inklusion, Umgang mit neuen Medien, gesunde Ernährung, frühere Einschulung, psychologische Probleme. «Ohne, dass der Staat dies finanziell und personell ausreichend hinterlegt hat.»
In Mainz spricht Landesschülersprecher Pascal Groothuis von einem strukturellen Problem, das keine Ausnahme darstelle. «Viele Schulen in Deutschland stehen vor ähnlichen Herausforderungen, die durch Corona verschärft wurden. Daher muss die Politik endlich mehr Geld in die Bildung investieren, um langfristige Lösungen zu schaffen.»
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Mainz geht davon aus, dass Ludwigshafen kein Einzelfall ist. «Ich glaube, dass es in vielen Schulen im Land in den Ballungszentren ähnliche Fälle gibt», sagt GEW-Chef Klaus-Peter Hammer. «Das war ein Weckruf. Jetzt darf sich keiner wegducken.» Als Konsequenz sollte es bei Lehrkräften eine Doppelbesetzung in Grundschulklassen geben. Das sei aufgrund des Fachkräftemangels aber nicht kurzfristig umzusetzen. Daher sollte auch über Personal mit pädagogischem Hintergrund nachgedacht werden.
Landeselternsprecherin Kirsten Hillert sagt, in dieser Härte habe man das noch nicht erlebt. «Obwohl es in Ballungszentren ähnliche Probleme gibt.» Sie spricht sich für eine enge Kommunikation zwischen Experten, Eltern und Schule aus. «Wenn Kinder nicht schulreif sind, leiden sie sowie die ganze Klasse darunter.» Allgemein gebe es wohl die Tendenz, dass Kinder häufiger Konzentrationsprobleme zeigen. «Betroffene Kinder leiden darunter selbst am meisten. Darüber hinaus benötigt es individuelle Unterstützung für Schule und Elternhaus.»
Dem Landesbildungsministerium zufolge ist der Schulaufsicht bisher kein Fall bekannt, bei dem eine Schule mit solch gravierendem Hinweis wie in Ludwigshafen an die Behörde herangetreten ist. Dass ein so hoher Anteil eines Schuljahrs als gefährdet benannt werde, sei ungewöhnlich, sagt ein Sprecher in Mainz. Die Zahl 40 stehe aber noch nicht fest. Die Entscheidung falle im Laufe des Schuljahrs.
Der Gräfenau-Grundschule seien in diesem Schuljahr zusätzlich 137 Lehrerwochenstunden für zusätzliche Sprachförderung genehmigt worden, heißt es. Dazu kämen 42 Wochenstunden für Lernförderung. Das entspreche 7,5 zusätzlichen Vollzeitstellen. Der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) als Schulaufsicht und dem Ministerium seien die Umstände in der Ludwigshafener Schule bekannt.
Rektorin Mächtle freut sich über die Unterstützung der ADD. «Die Stunden helfen, die Kinder etwas aufzufangen», sagt sie. Aber: «Für diese Stunden habe ich nicht unbedingt mehr Lehrkräfte.» Eigentlich benötigten fast alle der rund 450 Schülerinnen und Schüler einen intensiven Deutschunterricht. «Viele Kinder brauchen das erste Schuljahr, um überhaupt erst einmal eine Struktur zu erlernen – etwa den regelmäßigen Schulbesuch oder Hausaufgaben.»
Dass die Lage auch an ihrer Substanz nagt, räumt die Rektorin ein. «Momente, in denen ich sage: „Boah, da kann ich eh nichts machen“, gibt es», sagt Mächtle. Aber sie sei mit einem Kollegium zusammen, das sich der Situation ebenfalls jeden Tag stellen müsse. «Ich möchte diese Menschen unterstützen und nicht den Kopf in den Sand stecken. Solange ich die Kraft habe, werde ich für diese Schule kämpfen.» (dpa)