Mi, 26.07.2023 , 08:24 Uhr

Ludwigshafen: Als Hallen wie Kartenhäuser einstürzten - Jahrestage der BASF-Unfälle

Kurz vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs treffen zwei schwere Unfälle das Chemiewerk Ludwigshafen. Hunderte sterben. BASF gedenkt dieser Tage der Opfer. Sind solche Katastrophen noch möglich?

Von Wolfgang Jung, dpa

Ludwigshafen. Der Tag der Katastrophe ist ein ungewöhnlich heißer Mittwoch. Vor 75 Jahren, am 28. Juli 1948, reißt im BASF-Chemiewerk in Ludwigshafen ein Kesselwagen mit rund 30 Tonnen Flüssiggas auf und verursacht die verheerende Explosion einer Gaswolke. Bei einem der schwersten Chemieunfälle der deutschen Geschichte sterben 207 Menschen. Das Entsetzen ist groß – auch, weil sich nur fünf Jahre zuvor dort ein ähnlicher Unfall ereignet hatte.

Am 29. Juli 1943 explodiert ein Kesselwagen im damaligen I.G. Farben-Werk, die Detonation fordert 64 Menschenleben. 80 Jahre ist das her. BASF gedenkt dieser Tage der Opfer der traurigen Ereignisse.

Chemieunfälle sind selten – passieren aber. Am 21. September 1921 waren bereits bei einer Explosion im Stickstoffwerk der BASF sogar 561 Menschen getötet worden. Die Detonation riss einen 19 Meter tiefen Krater mit einem Durchmesser von 100 Metern in den Boden.

Sind solche Katastrophen heute noch denkbar? Thomas Hill wiegt den Kopf. «Aufgrund regelmäßig stattfindender Risikountersuchungen würde ich heute nicht mehr von solchen Unfällen ausgehen», sagt der Gefahrgutbeauftragte am BASF-Standort Ludwigshafen. «Solche Ereignisse sind immer auch Haltepunkte, Maßnahmen zu verschärfen.» Moderne Sicherheitssysteme würden sehr widerstandsfähig gemacht, auch gegen menschliche Fehler. Wichtig sei Transparenz bei der Analyse.

Genau dies war vor 80 Jahren nicht der Fall. «Die Explosion ereignete sich 1943 mitten im Zweiten Weltkrieg», sagt Unternehmenshistorikerin Susan Becker. «Es wurde sofort ein Schweige- und Geheimhaltungsverbot verhängt.» Keinerlei Berichterstattung fand statt. «Das erschwert uns bis heute die Analyse, was genau passiert ist.» Die Recherche gleiche einer «Detektivarbeit», meint Becker. «Die Überlieferungen von 1943 sind Stückwerk und eher ein Sammelsurium.» So seien damals auch die polizeilichen Ermittlungsakten bei einem Luftangriff zerstört worden.

Nach dem Krieg, 1948, seien die Rahmenbedingungen anders gewesen. Die Toten werden unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der französischen Besatzungsmacht unter anderem auf einem Ehrenfeld des Hauptfriedhofs in Ludwigshafen bestattet. Beim Staatsakt sagt Peter Altmeier (CDU), damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz: «Meine lieben trauernden Angehörigen, wir trauern mit euch, wir sorgen mit euch – und wir vergessen euch und eure Toten nicht.»

Bei dem Unfall vor 75 Jahren spielen sich in der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) Szenen wie in einem Katastrophenfilm ab. Erst ereignet sich eine einzelne Explosion, dann kommt es zu einer ganzen Kette von Detonationen. Die Druckwelle lässt Werkshallen wie Kartenhäuser einstürzen, in nahen Ortschaften fliegen Scheunentore aus den Angeln. Während Helfer in den Trümmern nach Überlebenden suchen, steht über Ludwigshafen ein 150 Meter hoher Rauchpilz.

Der Horror bricht kurz vor Schichtwechsel herein. Auslöser ist ein mit 30 Tonnen Dimethylether – einem leicht entzündlichen Flüssiggas – beladener Kesselwagen. Später kommt eine Expertenkommission zur Annahme, die Kapazität sei möglicherweise falsch berechnet worden. Zudem wird eine Schwachstelle an einer Schweißnaht vermutet.

Die explosive Fracht kam aus dem nördlichen Werkteil und war für die Farbenproduktion gedacht. Seit morgens steht sie in der Sonne. Bei Temperaturen von über 30 Grad dehnt sich das Gas aus – bis eine Naht platzt. Als der Ether sich mit Luft mischt, kommt es zur Explosion. Dabei tritt das übrige Gas aus, das mit immenser Wucht verbrennt.

Im Umkreis von 200 Metern werden alle Bauten beschädigt und 20 Gebäude zerstört. Sogar im jenseits des Rheins gelegenen Mannheim werden 2450 Häuser beschädigt. Im Werk bietet sich den rund 1000 Feuerwehrleuten und mithelfenden französischen und amerikanischen Besatzungssoldaten ein grausiges Bild. Während bangende Angehörige vor den Werktoren auf ein Lebenszeichen ihrer Männer, Söhne und Väter warten, tragen Rettungskräfte immer mehr Leichen ins Freie.

Doch es gibt auch mindestens einen Helden: William McKee. Der US-Sergeant aus Murfreesboro in Tennessee setzt sich kurzentschlossen in einen Bulldozer und zieht weitere Wagen aus der Gefahrenzone. «Der Mann», sagt Historikerin Becker, «hat noch Schlimmeres verhindert.» (dpa)

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