Karlsruhe/Wiesloch. Wer Straftaten begeht, aber psychisch krank oder suchtkrank ist, ist nicht selten schuldunfähig. Eine Gefängnisstrafe kommt dann nicht in Betracht. Dafür aber die Unterbringung im sogenannten Maßregelvollzug. Was genau ist das? Und welche Probleme gibt es?
Was heißt Maßregelvollzug?
Diese Art der Unterbringung muss von einem Richter angeordnet werden. Die Betroffenen kommen dann nicht ins Gefängnis, sondern in die Psychiatrie. Nach Angaben des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden (PZN) in Wiesloch sind zwei Drittel der Patienten psychisch krank und zu einem Drittel suchtkrank.
Wieviele Standorte für den Maßregelvollzug gibt es in Baden-Württemberg?
Im Südwesten sind dies die sieben Zentren für Psychiatrie (ZfP) mit neun Standorten: Bad Schussenried, Calw, Emmendingen, Reichenau, Weinsberg, Weissenau, Wiesloch, Zwiefalten und Heidelberg. Der Standort in Heidelberg kam erst in diesem Jahr hinzu und soll nur bis Juli 2025 genutzt werden. Danach sollen die dort Untergebrachten in eine Einrichtung nach Schwäbisch Hall kommen. Sie ist derzeit noch im Bau. Manche der Kliniken behandeln nur psychisch kranke Täter, manche konzentrieren sich auf Suchtkranke. In Weinsberg beispielsweise können beide Tätergruppen therapiert werden.
Wie lange bleiben die Menschen dort?
Suchtkranke verbringen durchschnittlich 13 Monate im Maßregelvollzug, psychisch Kranke bleiben mit im Schnitt vier Jahren deutlich länger – mitunter bis zu zehn Jahre, so das Sozialministerium. Formal ist bei dieser Tätergruppe die Unterbringung zunächst zeitlich unbegrenzt.
Wie unterscheidet sich der Maßregelvollzug von einer Haftstrafe?
Im Maßregelvollzug sollen die Insassen die Möglichkeit haben, von Drogen und Alkohol oder von Psychosen und anderen seelischen Erkrankungen loszukommen. Sie werden therapiert und möglichst auch soweit stabilisiert, dass sie nicht mehr gefährlich sind und eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft möglich ist.
Sind Lockerungen möglich?
Ja. Laut Sozialministerium erfolgen sie in einem gestuften Verfahren und in kleinen Schritten. Laut PZN können je nach Einzelfall dann auch unbegleitete Ausgänge oder eine Ausbildung beziehungsweise Arbeit außerhalb der Klinik ermöglicht werden. Gerade in den ersten Monaten eines Aufenthaltes seien die Sicherheitsmaßnahmen für die Patienten aber meist hoch. Gelockert werde immer erst dann, «wenn sie aktiv am Behandlungskonzept mitarbeiten».
Wie sicher sind diese Einrichtungen?
Auf Sicherheit wird geachtet, auch wenn die Maßstäbe nicht so streng sind, wie in einem Gefängnis. In den Kliniken gibt es Bereiche mit besonderen Vorkehrungen. Der sogenannte Krisenbereich des Klinikums in Weinsberg beispielsweise ist von einem fünf Meter hohen Zaun mit Stacheldraht umgeben, die Fenster sind vergittert, erläutert Matthias Michel, Ärztlicher Direktor des Klinikums in Weinsberg. Bei den Unterbringungsbedingungen spiele auf jeden Fall die Schwere des Deliktes eine Rolle. Die Gesellschaft habe ein Recht darauf, vor den untergebrachten Patienten geschützt zu werden, erklärt das Sozialministerium.
Welche Kritik gibt es an dem System?
Verschiedene Aspekte sind zu nennen. Zum einen wird im Südwesten seit längerem moniert, dass Menschen wegen überfüllter Einrichtungen vorzeitig entlassen werden. Das Sozialministerium hat hier gegengesteuert. So seien die Plätze in den letzten sechs Jahren um 42 Prozent erhöht worden – auch durch Neubauten am Standort Wiesloch und Calw. Die Gesamtzahl der Plätze beträgt mittlerweile knapp 1500. Das Personal sei entsprechen angepasst worden.
Es stellen sich aber generell auch ethische Fragen: Der Aufenthalt der psychisch kranken Täter ist zeitlich zunächst nicht begrenzt. Sie können also auch viele Jahre im Maßregelvollzug bleiben. Seit einer Gesetzesänderung müsse sie aber regelmäßig extern begutachtet werden, damit nicht die Gefahr besteht, dass sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. «Der Blick von außen ist extrem wichtig», sagt Michel.
Kommt es auch zu Fehleinschätzungen?
«Natürlich», sagt Michel, der selbst auch als Gutachter und Sachverständiger arbeitet. «Wir haben nie hundertprozentige Sicherheit und können nicht in die Köpfe der Patienten hineinschauen.»
Wie oft kommt es denn zu einer Flucht, wie das etwa in Wiesloch der Fall war?
Im Vorjahr hat es nach Angaben des Sozialministeriums in allen Zentren 56 sogenannte Entweichungen gegeben. In den sechs Jahren davor kam es den Angaben zufolge zu durchschnittlich 52 solcher Vorkommnisse pro Jahr. Es habe in den vergangenen 20 Jahren bei keinem einzigen Fall im Zusammenhang mit einer Flucht aus dem Maßregelvollzug ein Tötungsdelikt gegeben.
Finden sich dort zunehmend auch traumatisierte Geflüchtete?
Durchaus, sagt Michel. Die Menschen seien vornehmlich junge Männer, eine Altersgruppe, in der psychotische Erkrankungen ohnehin häufiger auftreten, erläutert er. Wenn dann Gewalt im Herkunftsland und auf der Flucht erfahren werde und später in Deutschland die Menschen ohne Tagesstruktur lebten und möglicherweise noch etwa auch Drogenkonsum hinzukommen, könne es leichter zu psychotischen Störungen kommen. (dpa / dls)