Von Nico Pointner, David Nau und Martin Oversohl, dpa
Stuttgart. Das Jahr 2024 enthält politischen Sprengstoff. Der Ampel droht eine Zerreißprobe. Die AfD hofft im Osten auf ein «blaues Wunder». Die Energiewende steckt in der Sackgasse. Eine Lösung der Migrationskrise zeichnet sich weiter nicht ab. Steigende Preise und Sparzwänge dürften den Unmut vieler Bürger schüren. Auch Baden-Württemberg steht ein wichtiges politisches Jahr bevor.
Wahlen
Nach dem Wahlkampf ist vor dem Wahlkampf, wie es so schön heißt. Im kommenden Jahr stehen am 9. Juni wichtige Abstimmungen an: Nicht nur die Europawahl, sondern zeitgleich auch die Kommunalwahlen, bei denen die Gemeinderäte in den 1101 Städten und Gemeinden und die Kreisräte in den 35 Landkreisen gewählt werden sollen. Diese Wahlen gelten als Stimmungstest, Themen wie Migration dürften hier durchschlagen. Angesichts der Umfragewerte haben die Grüne im Land Grund zum Zittern. Auch die Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Bundesländern könnten 2024 auf das Land ausstrahlen: Die AfD ist stark wie nie. 2025 steht dann die Bundestagswahl an, im Frühjahr 2026 folgt die Landtagswahl in Baden-Württemberg. Wie viel Zeit bleibt zwischen den Wahlkämpfen noch für konkrete Sachpolitik?
Grünen-Nachfolge
Die Frage, wer personell bei den Grünen 2026 auf Übervater Winfried Kretschmann folgen soll, wird immer drängender. Als aussichtsreichster Kandidat gilt nach wie vor Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir. Interesse hat auch Fraktionschef Andreas Schwarz. Aus der Partei hört man übereinstimmend, Özdemir müsse nur sagen, dass er wolle, dann sei die Sache entschieden. Ob er aber will, ist weiter unklar. Vor einer Antwort dürfte der 57-Jährige wohl ganz genau die Umfragen studieren. Dort liegen die Grünen seit einiger Zeit immer häufiger hinter der CDU. Klar ist dagegen, dass die Entscheidung wohl im kommenden Jahr fallen wird – nach den Kommunal- und Europawahlen im Juni, damit ein mögliches schwaches Ergebnis den Kandidaten nicht beschädigt. Aber noch vor dem Herbst, weil dann die Nominierungen für die Bundestagswahl 2025 anstehen. Spätestens dann muss Özdemir Farbe bekennen, ob er erneut in den Bundestag gewählt werden will oder seine Zukunft eher im Südwesten sieht.
CDU-Bewährungsprobe
Beim Koalitionspartner CDU ist die Machtfrage vor kurzem erst geklärt worden, und zwar diesmal ganz ohne Hauen und Stechen. Fraktionschef Manuel Hagel ist der neue starke Mann der CDU im Ländle und seit kurzem auch Chef des Landesverbands. Der 35-jährige hat sich in den vergangenen Jahren bemüht, die zerstrittene Südwest-CDU zusammenzuführen und alte Gräben zuzuschütten. Hagel schielt auch auf die Spitzenkandidatur 2026 – deshalb wird er nun auf Schritt und Tritt beobachtet und darf sich keine gröberen Schnitzer erlauben. Und wofür steht Hagel eigentlich politisch? Er wird sein Profil schärfen müssen. Bis zur nächsten Landtagswahl ist der Weg noch lang.
Sparzwänge
Über viele Jahre konnte sich die Landesregierung aus einem übervollen Steuertopf bedienen und damit auch Streitpunkte zwischen Grünen und CDU einfach unter einem Haufen Geld begraben. Diese fetten Jahre sind nun definitiv vorbei. 2024 muss ein neuer Doppelhaushalt gezimmert werden. Bereits im Frühjahr sollen die Ressorts ihre Wünsche anmelden. Ein Sprecher des Finanzministeriums prognostiziert «herausfordernde Beratungen»: Keine sprudelnden Steuereinnahmen mehr, eine milliardenschwere Deckungslücke, Tarifergebnisse, die fürs Land teuer werden, ein schwieriges Konjunkturumfeld. Die Haushaltskrise der Ampel kommt erschwerend hinzu: Land und Bund streiten über die Finanzierung des Deutschland-Tickets, die Übernahme von Flüchtlingskosten und Regionalisierungsmittel für die Schiene. Auch die Tilgung der Corona-Kredite schmälert die finanziellen Spielräume des Landes – sie beginnt 2024 mit 325 Millionen Euro pro Jahr.
Migrationskrise
Ein Ende der hohen Flüchtlingszahlen ist auch im kommenden Jahr nicht abzusehen. Es herrscht Krieg in der Ukraine und in Nahost, auch aus Afrika kommen zahlreiche Menschen nach Europa. Drängendstes Problem für Baden-Württemberg wird die Frage der Unterbringung und Versorgung. Es fehlen rund 9000 Plätze für neu ankommende Flüchtlinge, mindestens neun Erstaufnahmezentren müssen in den kommenden Jahren gebaut werden. Mittelfristig kommen nach Berechnungen des Bundes pro Jahr 210 000 Menschen nach Deutschland, um hier Asyl zu beantragen. Davon müsste Baden-Württemberg rund
27 300 unterbringen. Zunehmend schwerer wird es vor allem, Anwohner neuer Projekte zu überzeugen. Sie tragen ihren Protest auch weiter auf die Straße.
G9-Rückkehr
Eigentlich hat Grün-Schwarz vereinbart, keine Debatten zur Schulstruktur im Land führen zu wollen. Nach massivem Druck der Bürger steht aber nun doch eine Frage der Schulstruktur auf der Tagesordnung: Wann und wie wird der Südwesten als eines der letzten Bundesländer zu einem neunjährigen Gymnasium zurückkehren? Kretschmann hatte unter dem Druck eines Volksantrags und der Empfehlung eines Bürgerforums seinen Widerstand gegen G9 aufgegeben und angekündigt, ein Modell für die Einführung eines «neuen G9» erarbeiten lassen zu wollen. Erste Vorschläge zum Verfahren soll das Kultusministerium schon im Januar vorlegen, danach will die Regierung auch in die inhaltliche Beratung einsteigen. Finanzierung, Personalbedarf, Auswirkungen auf andere Schularten: Viele Fragen sind noch offen. Wenn deren Beantwortung zu lange dauert, könnte erneut der Druck der Bürger steigen. Im Frühjahr muss sich der Landtag mit dem Volksantrag der Elterninitiative befassen. Lehnt er deren Vorschlag ab, können die Eltern ein Volksbegehren starten, dass am Ende in einer Volksabstimmung enden könnte.
Volksbegehren
Nicht nur zur Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium werden Volksbegehren angestrebt. Die FDP will mit einem Volksbegehren eine Verkleinerung des Landtags erreichen. Das Innenministerium erklärte erst vor wenigen Tagen, dass dies nicht zulässig und verfassungswidrig sei – dagegen wollen die Liberalen nun vor das Verfassungsgericht ziehen. Mit dem Volksbegehren soll die Anzahl der Wahlkreise im Südwesten um fast die Hälfte reduziert werden. Eine weitere Initiative stemmt sich gegen eine Gender-Pflicht an Schulen und Behörden. Der Heidelberger Rechtsanwalt Klaus Hekking hat bereits 14 550 Unterschriften im Innenministerium eingereichet – eine Entscheidung steht noch aus. Mit einem Volksantrag zum Flächenverbrauch will zudem ein Bündnis aus Naturschutz- und Landwirtschaftsverbänden das Land unter Druck setzen. (dpa/lsw)